Der Sündenfall als natürlicher Entwicklungsschritt der Evolution

Was den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet, ist sein ausgeprägter rationaler Verstand. Mittels seines Verstandes versucht der Mensch das Funktionieren der Welt zu verstehen, um dann sein eigenes Verhalten so auf das Verhalten der Welt abzustimmen, dass seine Ziele erreicht, seine Wünsche erfüllt und seine Bedürfnisse befriedigt werden.

Der Verstand hilft dem Menschen, in einer bestimmten Situation das richtige Verhalten auszuwählen. Aber wie ist das bei anderen Lebewesen, die nicht so einen ausgeprägten Verstand haben? Woher wissen die, wie sie sich verhalten müssen?

Auf den ersten Blick könnte man meinen, die regeln das mit einem reduzierten Verstand. Sie haben ja auch nicht so ein komplexes Verhalten wie der Mensch. Aber das ist es nicht allein. Es gibt nämlich neben dem Verstand noch (mindestens) eine zweite Instanz, welche das Verhalten mitbestimmen möchte. Und das ist der Instinkt (und beim Menschen auch noch die Intuition bzw. das “Bauchgefühl”).

Instinkt und Intuition basieren auf Informationen, die nicht mit dem Verstand ausgedacht wurden, sondern sie kommen “irgendwo anders” her. Instinkt und Intuition unterscheiden sich voneinander darin, dass der Instinkt sofort auf das Verhalten durchschlägt, während bei der Intuition über die Umsetzung der Informationen in Verhalten bewusst und unter Einbeziehung des Verstandes entschieden werden kann.

Man kann sich nun folgenden (stark vereinfacht dargestellten) Entwicklungsstrang im Rahmen der Evolution vorstellen:

  1. Bei Lebensformen ohne rationalen Verstand erfolgt die Verhaltenssteuerung überwiegend instinktiv.
  2. Mit der Entwicklung des rationalen Verstandes geht die Verhaltenssteuerung zunehmend auf den rationalen Verstand über. Zum einen erschließen sich dabei neue Verhaltensmöglichkeiten, zum anderen kann der Verstand einiges besser regeln, als es vorher rein intuitiv möglich war.
  3. Und nun kommt es zum eigentlichen Sündenfall: Der Verstand löst sich von Instinkt und Intuition. Er betrachtet sich als etwas Besseres, während die ursprüngliche instinktive Verhaltenssteuerung als rückständiges und überholtes Überbleibsel der evolutionären Vergangenheit des Menschen angesehen wird. Der Verstand versucht die intuitive Verhaltenssteuerung immer mehr zu dominieren und auszuschalten und ersetzt intuitiv-instinktive Informationen durch rationale Regelsysteme und Konzepte. Ein Beispiel dafür ist die Ernährungswissenschaft (rationales Regelsystem), die den natürlichen Appetit (Instinkt) dominiert.

Es ist an dieser Stelle wichtig zu verstehen, dass nicht die Existenz des rationalen Verstandes als Solches den Sündenfall ausmacht, sondern die Überhöhung des Verstandes gegenüber allen nicht-rationalen Informationen, die als eher wertlos und nichtig angesehen werden.

Viele werden an dieser Stelle denken: “So schlimm ist das doch nicht. Ich benutze doch meine Intuition ab und zu.” Aber genau das ist die rationale Isolation. Was der Mensch heute noch an Intuition und Instinkt kennt, ist nur ein winziger, müder Rest dessen, was sich eigentlich dahinter verbirgt, das in der Mythologie nicht umsonst als “Stein der Weisen” und “Heiliger Gral” bezeichnet wird und das den Menschen “zurück ins Paradies” führen würde, aus dem er durch den Sündenfall vertrieben wurde.

Es findet durch den Sündenfall eine Trennung innerhalb der Psyche statt. Die Psyche zerfällt in den rationalen Verstand und die nicht-rationalen Teile. Die nicht-rationalen Teile der Psyche verkümmern zunehmend durch die Abwertung, die sie erfahren.

Ich bezeichne den Zustand der Psyche nach dieser Teilung als “rationale Isolation”. Rationale Isolation deshalb, weil dadurch der rationale Verstand von den anderen Teilen der Psyche isoliert wird. Die nicht-rationalen Teile der Psyche werden durch die Teilung in eine Art inaktiven Dämmerzustand versetzt, während der Verstand immer mehr ihre Funktionen übernimmt.

Diese Entwicklung wäre ein Fortschritt, wenn der rationale Verstand die Aufgaben, die bisher instinktiv-intuitiv gelöst wurden, auf rationale Weise besser lösen könnte. Das allerdings kann er nur zu einem kleinen Teil. Die Entwicklung des Verstandes ist eigentlich als Erweiterung von Verhaltensmöglichkeiten angelegt und nicht als Ersetzung von Abläufen, die gut funktioniert haben und die nun aber im Zustand der rationalen Isolation ganz und gar nicht mehr funktionieren. Der Verstand versucht Aufgaben zu übernehmen und Probleme zu lösen, für die er nicht geeignet ist.

Der Verstand als solcher ist eine lediglich Informations-verarbeitende Instanz, während aber Intuition und Instinkt Informationsquellen sind. Indem der Verstand Instinkt und Intuition weitestgehend ausschaltet, trennt er sich von lebenswichtigen Informationen ab, die rational nicht ersetzt werden können. Das ist der Grund, warum so viele Probleme der Menschheit als Ganzes, aber auch des Einzelnen, nicht gelöst werden können. Meiner persönlichen Einschätzung nach hängt die Zukunft der Menschheit entscheidend davon ab, ob die rationale Isolation in absehbarer Zeit überwunden werden kann.

Das wirft natürlich die Frage auf: Was soll das Ganze? Hat die Evolution hier einen Fehler gemacht?

Ich persönlich glaube, dass die rationale Isolation zwar einerseits ein Irrweg ist, weil viel Schaden entsteht, der aber gleichzeitig dem Verstand eine extreme Spezialisierung und Ausprägung seiner rationalen Fähigkeiten ermöglicht. Im Kontext der nicht-rationalen Teile der Psyche hätte es der Verstand an vielen Stellen zu einfach, aber ohne diese Teile wird er vor schier unlösbare Aufgaben gestellt, an denen er sich abarbeiten kann, um daran zu wachsen. Der Sündenfall ist eine Art Umweg, der in Kauf genommen werden muss für den Entwicklungsvorteil, der anderseits daraus entsteht – falls es gelingt, die rationale Isolation rechtzeitig wieder rückgängig zu machen bzw. zu überwinden.

Aber ganz egal, ob man den Sündenfall nun als bedauerliche Fehlentwicklung oder als Trick zur Verstärkung der rationalen Verstandesfunktion sieht – Verstand und Instinkt / Intuition müssen wieder zusammengeführt werden, weil die Menschheit sonst in ungelösten Problemen versinkt und ihre Entwicklung möglicherweise sogar endet. Wir erleben gegenwärtig eine Phase, in der Krisen und ungelöste Probleme in allen Bereichen global und individuell rasant zunehmen. Die Möglichkeiten des rational isolierten Verstandes sind ausgeschöpft. Dass die Situation von vielen Menschen nicht so dramatisch wahrgenommen wird, liegt an einem der Wesensmerkmale des rational isolierten Verstandes: Er ist ein Meister der Illusionen.

nächstes Kapitel: Stein der Weisen